"Die Grauen Krieger Teil II: Jagd"

ISBN: 978-3-7375-9610-7

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 Prolog

 

Es war zu einem Albtraum geworden, vielleicht sogar etwas noch Schlimmeren. Caleb saß auf dem harten, kalten Boden der Kirchenruine, hielt sich die blutende Schulter und schaute sich um, was war von ihnen eigentlich noch übrig? Sie hatten ihre Feinde unterschätzt. Durch die vielen Abwegigen waren sie nun so weit in die Ecke gedrängt worden, dass es trotz ihrer unglaublichen Macht und ihrer Fähigkeiten wirklich schlecht für sie aussah, mehr als das, katastrophal.

Dass es zu einem Kampf kommen würde, wenn sie sich von der Versklavung der Kirche befreien würden, war ihnen klar gewesen. Es war auch klar gewesen, dass Rom sie nicht einfach ziehen lassen würde, schon gar nicht, nachdem sie ihre Heiligtümer aus den Hallen des Vatikans hatten stehlen lassen. Was hier geschah, hatten sie jedoch nicht erwartet. Wie viele waren sie noch? Wie viele Graue Krieger waren noch übrig, hier und auf der restlichen Welt?

Er wischte das Blut weg, das aus einer Wunde am Kopf langsam in seine Augen lief, er war so müde. Als er die Phiole mit dem Blut, ihr mächtigstes Heiligtum, in den Händen gehalten hatte, hatte er sich so stark gefühlt, es war der Beginn monatelanger Kämpfe gewesen. Die sieben Heiligtümer waren wieder in ihrem Besitz. Sie waren an einem sicheren Ort versteckt, bewacht von ihm und den zehn anderen Bewahrern, einen Zwölften gab es schon lange nicht mehr. Würde es so weitergehen, würde es bald keinen Grauen Krieger mehr geben. Zuletzt würde es die Bewahrer treffen, sie waren die Stärksten und dann?

Er richtete sich ein wenig auf. Ihre Gegner hatten sich ganz plötzlich zurückgezogen, aber sie waren noch da, er konnte sie spüren. Was hatten sie vor? Die Grauen, er und auch die anderen drei Bewahrer hatten sich in die Enge treiben lassen und saßen nun hier fest. Sie waren aus dem Hinterhalt überfallen worden, Übergriffe gab es täglich. Cale schloss kurz die Augen und dachte an seine Familie, als er spürte, wie jemand durch die Öffnung trat, die in die Sakristei führte, in der sie sich befanden. Ein Schatten fiel auf ihn, aber er fühlte nichts.

 

„Das muss ein Ende haben.“ Vernahm er ein Flüstern. Die Stimme kam ihm bekannt vor. „Ich will mit einem von Euch reden.“ Der, der sprach, machte einen weiteren Schritt und trat aus dem Schatten heraus, es war Kardinal Holster.

„Wo ist Jakob?“, fragte er und Caleb hatte das enorme Verlangen aufzustehen und diesen Mann zu töten, aber er tat es nicht, stattdessen antwortete er ihm. „Nicht hier.“

„Dann rede du mit mir.“ Holster deutete auf ihn.

„Warum sollte ich?“

„Weil das hier endlich aufhören muss.“

Cale lachte trocken.

„Ich habe euch ein Angebot zu machen.“

„Steck dir dein Angebot sonst wo hin“, ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund.

Caleb stöhnte: „Wie viele Angebote noch? Wie viele Abkommen, Vereinbarungen, wie viel Abhängigkeit noch? Ich sterbe lieber, als mich noch einmal in Eure Hand zu begeben!“

„Das wäre schade, höre mich an!“

Caleb stand umständlich auf. Er hatte zwei Kugeln in der rechten Schulter stecken und es tat sogar weh. Er konnte kaum noch sein Schwert halten, es zerriss ihm fast die Schulter . Er trat ganz dicht an den Kardinal heran und flüsterte ihm böse zu: „Warum ich?“

„Weil es keinen Ausweg für euch gibt“, flüsterte dieser zurück. „Und mich auf eurer Seite zu haben ist euer Glück.“

 

 

1. Montag

 

Natascha war unter die Dusche gesprungen, hatte sich irgendetwas übergezogen und war so schnell wie sie konnte zum Tempelhofer Damm gefahren, nein, hatte sich von einem Taxi fahren lassen. In dem dichten, morgendlichen Verkehr hatte sie sich nicht getraut sich selbst hinter das Steuer zu setzen. Sie hatte jetzt schon ein halbes Jahr ihren Führerschein. Tom hatte sie dazu ermutigt ihn zu machen, wahrscheinlich war er es leid sie immer chauffieren zu müssen, auch wenn er es nie gesagt oder angedeutet hatte. Aber sie fuhr nicht gerne und auch nicht gut.

Der Anruf so früh hatte sie überrascht. Seit sie nach Berlin zurückgekehrt war, arbeitete sie öfter als Beraterin für die Kripo, aber eigentlich war sie im Museum angestellt und hatte ein paar Tage frei. Hauptkommissar Schmidt hatte sie angerufen und gebeten so schnell wie möglich zu ihm zu kommen.

Als sie nun das Gebäude betrat und auf den Fahrstuhl wartete, versuchte sie ihre noch feuchten Haare ein wenig zu ordnen und holte einen zart rosafarbenen Lippenstift aus ihrem Rucksack heraus. Im Fahrstuhl drehte sie sich zum Spiegel und zog die Lippen nach. Was war wohl so wichtig, dass man sie bat, umgehend zu erscheinen?

Natascha betrat das Großraumbüro und wurde sofort von dem hektischen Treiben überrollt. Sie ging den Weg zu Schmidts Büro, grüßte ein paar Beamte und meinte plötzlich jemand würde ihr Herz mit eiserner Hand umklammern.

Ihre Schritte wurden langsamer, sie konnte und wollte nicht glauben, was sie sah. Der Kriminalhauptkommissar stand dort mit zwei Männern und den Einen versuchte sie seit beinahe anderthalb Jahren vollkommen aus ihren Erinnerungen zu streichen. In den ersten Tagen hatte sie permanent an ihn gedacht. In den nächsten Monaten häufig, dann war es ihr gelungen ihn in die hinterste Ecke ihrer Gedanken zu verbannen, und wenn er daraus hervor brach, war es ein stechender Schmerz in ihrer Brust. Tascha überlegte, ob sie sich umdrehen und weglaufen sollte, stattdessen setzte sie wie automatisch einen Fuß vor den Anderen, langsam aber stetig.

Er schaute sie nicht an, aber sie war sich sicher, dass er wusste, dass sie da war. Es gab ihr Gelegenheit zu registrieren, dass er eigentlich besser denn je aussah. Er war noch schlanker als bei ihrem letzten Zusammentreffen. Die Haare waren ein wenig länger. Eine weitere Narbe zog sich quer über seine Wange, er wirkte jünger aber abgespannt und müde. Seine Augen leuchteten immer noch in diesem unglaublichen Grün, wie sie es niemals zuvor und auch niemals danach wieder gesehen hatte. Ein Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus, das sie wütend beiseiteschob. Sie hatte sich geschworen, sollte er ihr je wieder unter die Augen kommen, würde sie ihn in die Hölle schicken, dahin, wo er herkam.

 

Als sie die kleine Gruppe erreicht hatte, unterbrach Hauptkommissar Lukas Schmidt das Gespräch, das er mit den Männern geführt hatte, und lächelte sie an. „Guten Morgen Frau Schiernow, danke, dass Sie so schnell herkommen konnten. Wenn ich vorstellen darf, Herr Weitner und Herr von Lahn.“ Weitner gab ihr die Hand, auch ihn kannte sie von damals, als sich ihr Leben beinahe in einen Albtraum verwandelt hatte. Sie konnte sich nicht an seinen Vornamen erinnern.

Caleb von Lahn schaute sie an und Natascha glaubte ein Zögern in seiner Bewegung wahrzunehmen, aber dann spürte sie seine kalte Hand, die nach ihrer griff. Er zeigte keinerlei Anzeichen, dass sie sich kannten, geschweige denn, dass sie sich einst das Bett geteilt hatten. Sie wollte schreien, ihn anschreien aber ein dicker Kloß saß in ihrer Kehle und sie brachte kein Wort heraus, nur ein Nicken. Schmidt legte seine Hand an ihren Rücken und schob sie in sein Büro, die Herren folgten.

Als sie saßen, räusperte sich der Kommissar und begann zu sprechen: „Wir haben eine Mordserie hier in Berlin. Ich weiß nicht, ob Sie darüber informiert sind Frau Schiernow, Tom Neders arbeitet auch an dem Fall.“ Schmidt wusste, dass sie beide zusammen waren und sie wusste, dass Tom momentan an einer schweren Sache arbeitete. Einzelheiten kannte sie nicht und so schüttelte sie, immer noch unfähig etwas zu sagen, den Kopf. Was sollte sie tun? Tausend Gedanken kamen ihr. Sie schaute zu Caleb herüber. Die Narbe an der Wange hatte er sich zugezogen, als vor anderthalb Jahren ein altes Fabrikgebäude durch das SEK gestürmt worden war. Dort hatten er und seinesgleichen die sieben Heiligtümer zusammengetragen, die ihnen einst von der Kirche gestohlen worden waren. Sie hatten sich die Heiligtümer zurückgeholt, nicht ohne eine Menge Blut zu vergießen und vielen Menschen, nein sie verbesserte sich vielen Personen den Tod zu bringen. Natascha hatte nicht gewusst, mit wem sie es zu tun hatte, als sie sich auf ihn eingelassen hatte. Sie war nach Berlin gekommen, um der Kripo beratend zur Seite zu stehen, bei einem Fall, den sie den „Kunstmörderfall“ nannten. Nach einem Blutbad, das sie während einer Kunstausstellung miterlebt hatte, war sie zu ihrer Freundin Mia gezogen.

Es verursachte ihr einen Stich in ihrem Herzen, wenn sie an ihre einst beste Freundin dachte. Dort war sie auf Caleb getroffen und hatte sich unsterblich in ihn verliebt, ohne zu wissen, dass sie sich mit einem Wesen einließ, das nicht menschlich war und einer der „Kunstmörder“. Und als sie es erfahren hatte, und ihn der Polizei hätte übergeben können, hatte, sie ihn ziehen lassen, er war ein Bewahrer. Sie wurde aus den Gedanken gerissen, als Schmidt sie fragte, ob sie einen Kaffee wolle.

 

Nachdem er mit vier Bechern wieder sein Büro betreten hatte, begann der Hauptkommissar zu erzählen: „Die Opfer stehen alle in irgendeiner Weise mit der katholischen Kirche in Verbindung und sind männlich.“ Er legte Natascha ein paar Fotos vor. „Ich hoffe Sie haben noch nicht gefrühstückt? Sie müssen sich das nicht anschauen.“

Tascha nahm die Bilder und schluckte, dann schaute sie sie sich an. Eine Person, der Statur nach wahrscheinlich ein Mann, lag auf dem Altar einer Kirche. Sein Körper war kaum noch als solcher zu erkennen. Blut und Gedärme quollen aus ihm heraus, das Gesicht war zerschlagen.

Auf dem zweiten Foto war ein Körper zu sehen, der an eine Wand genagelt war, falsch herum gekreuzigt. Auch hier war nichts mehr von dem Gesicht zu erkennen, nur eine undefinierbare Masse und Blut, das die Wand herunter gelaufen war und eine große Pfütze am Boden bildete.

Das nächste Bild: Ein Körper kein Gesicht und ein klaffendes Loch dort, wo das Herz saß.

Bild für Bild das gleiche Motiv, Blut, geschundene Körper und kein Gesicht mehr. Die Letzten schaute sich Natascha nicht mehr an, sie hatte durchaus einen Eindruck gewonnen. Angewidert schob sie die Bilder in die Mitte des Tisches. Sie war Kunsthistorikerin, mit so etwas wollte sie nichts zu tun haben.

Schmidt ergriff wieder das Wort: „Seit etwa zwei Monaten beschäftigt uns dieser Fall. Bisher sind die Ermittlungen ergebnislos geblieben, obwohl die Mörder all ihre Opfer an Orten getötet haben, an denen sie früher oder später gefunden werden mussten. Es wurden keine Spuren gefunden, keine Verdächtigen, keine Zeugen. Die Getöteten, so wir denn überhaupt ihre Identität ermitteln konnten, waren unauffällige, anständige und unbescholtene Bürger. Es gab sieben Tote, von denen wir vier identifizieren konnten. Einer war Priester in der Kirche, in der er gefunden wurde. Einer war ein Autohändler, verheiratet, keine Kinder, mit Haus am Stadtrand. Ein anderer arbeitete als Verkäufer und war alleinstehend und das vierte Opfer war ein Friedhofsverwalter.

Die vier kannten sich nicht, hatten keine Gemeinsamkeiten, lediglich die Fundorte der Leichen haben einen Bezug zueinander. Sie wurden alle auf dem Boden der katholischen Kirche gefunden. Bisher ist es uns gelungen die Presse weitest gehend herauszuhalten, was ein Glück ist und was ich eigentlich kaum fassen kann. Weil die Fundorte zu kirchlichem Besitz gehören und, weil wir von Ritualmorden ausgehen, ist der Vatikan an einer Aufklärung äußerst interessiert. Man hat uns diese beiden Herren geschickt.“ Er deutete auf Cale und seinen Kollegen. 

Und was hatte das mit ihr zu tun?

„Sie werden uns zur Verfügung stehen unter der Voraussetzung, dass Sie als Verbindungsperson an diesem Fall mitarbeiten.“

„Wieso ich?“ platzte es aus Natascha heraus.

„Man konnte sich wohl gut daran erinnern, dass Sie im „Kunstmörderfall“ maßgeblich an der Aufklärung beteiligt waren. Sie haben dafür gesorgt, dass gewisse Besitztümer zurück an die Kirche gegebene werden konnten.“

Ach war sie das? Natascha schaute zu Caleb, der sie weiterhin zu ignorieren schien.

„So Frau Schiernow ich hoffe ich kann auf Ihre Mitarbeit zählen. Sie bekommen Zugang zu sämtlichen Akten und Orten, die für die Ermittlungen notwendig sind, ebenso Herr von Lahn und Herr Weitner. Meine Beamten werden davon unterrichtet, dass Sie hier sind und, dass Sie miteinander arbeiten werden. Sie müssen Ihre bisherigen Ergebnisse mit unseren abstimmen. Auf ein gutes Zusammenarbeiten und darauf, dass wir den Fall mit Ihrer Hilfe klären.“ Er reichte allen nacheinander die Hand und dann trennten sich ihre Wege.

 

Natascha stand im Toilettenraum vor dem Spiegel und betrachtete sich, das kalte Wasser lief noch. Was hatte sie zu der Klärung des „Kunstmörderfalls“ eigentlich offiziell beigetragen, sodass es dem Vatikan aufgefallen war? Diese Erklärung war doch fadenscheinig! Da war was faul, Ryan hätte es bemerkt, aber er war nicht mehr hier. Sie würde jetzt zu Schmidt gehen und ihm sagen, dass sie nicht an diesem Fall mitarbeiten konnte, dass ihre Arbeit im Museum es nicht zuließ. Sie würde sagen, dass sie nicht mit Caleb zusammenarbeiten konnte, dass diese beiden Männer nicht von Rom geschickt wurden, denn sie hatten die Loslösung, die Befreiung von der Kirche damals vorbereitet. Aber was hatte Cale hier zu suchen? Wer waren die Opfer dieses bestialischen Mörders?

Als sie den Toilettenraum verließ, stieß sie beinahe mit Caleb zusammen. Er hatte, an die Wand gelehnt, auf sie gewartete und da ließ sie ihrer Wut auf ihn freien Lauf.

„Was soll diese Theater? So ein Mist den, ihr hier erzählt! So ein Quatsch von wegen Rom hat euch geschickt. Wie hast du das angestellt? Was geht hier wirklich vor?“ Sie zitterte vor Zorn.

Seine Stimme war kalt wie Eis, als er ihr antwortete. „Was willst du von mir? Ich habe damit nichts zu tun. Es war nicht meine Entscheidung, weder, dass ich hier herkomme, noch, dass du mit uns arbeitest.“

„Und was ist mit dem Vatikan? Ich denke euer Ziel war es euch von ihnen zu lösen, wen habt ihr manipuliert, damit man euch hier mit offenen Armen aufnimmt?“

„Niemanden, wir sind tatsächlich im Auftrag der Kirche hier.“

„Hat euer Plan also nicht funktioniert? Sind all die Leute umsonst gestorben? Ich hätte dich damals der Polizei ausliefern sollen!“

„Hast du aber nicht und was wir mit der Kirche haben oder nicht geht dich nichts an!“

„Und ob es das tut! Ich weiß nicht was hier gespielt wird, aber ich mache dabei nicht mit. Ich gehe jetzt zu Schmidt und sage, dass er nicht auf meine Hilfe zählen kann.“ Natascha drehte sich um und ging den Flur in Richtung Schmidts Büro.

„Ohne deine Mitarbeit gibt es unsere Hilfe nicht!“, rief er ihr hinterher. Sie reagierte gar nicht, sondern lief weiter.

 

Wenige Minuten später schloss sie die Tür vom Büro wieder. Der Hauptkommissar hatte bestätigt, was Cale gesagt hatte. Die Mitarbeit der beiden Ermittler des Vatikans war unausweichlich an ihre Beteiligung an diesem Fall als Kontaktperson geknüpft. Würde sie nicht mitmachen, würde man die Herren hier abziehen und die eigenen Untersuchungen alleine weiterführen.

Schmidt hatte sie mit allem Nachdruck gebeten ihre Entscheidung zu überdenken, die Kriminalpolizei war auf die Hilfe der katholischen Kirche angewiesen. Sie fühlte sich hilflos dem Spiel ausgesetzt.

Natascha zog sich eine kalte Cola aus dem Getränkeautomaten in der Kantine und setzte sich abseits an einen Tisch. Sie öffnete die Flasche und trank den eiskalten Inhalt zur Hälfte. Sie sehnte sich nach Tom, der gerade seine Schwester Julia besuchte. Als er gefahren war, war Tascha froh gewesen ein paar Tage nur für sich zu haben. Sie liebte Tom aber mal wieder ganz alleine zu sein, lange zu schlafen, zu lesen und vielleicht endlich die letzten Kartons auszupacken, die nach dem Umzug vor einer halben Ewigkeit immer noch im Schlafzimmer standen, einfach mal die Seele baumeln zu lassen, hatten sie in Hochstimmung versetzt. Obwohl er sie gebeten hatte mit ihm zu kommen, hatte sie es vorgezogen in Berlin zu bleiben. Was würde er sagen, wenn er erfuhr, dass Caleb wieder in ihr Leben getreten war? Er hatte ihn nie gemocht und war für sie da gewesen als Cale sie so verletzt hatte. Es gab nie ein uns, diese Worte schwirrten immer noch in ihrem Kopf herum. Sie hatte Tom nichts erzählt, nur das Caleb sie unsanft abserviert hatte. Hatte nichts von seinem Geheimnis und nichts davon erzählt, dass er kein Mensch war. Sie hatte nichts davon erzählt, dass er ein eiskalter Killer war. Natascha hatte nur erzählt, dass er Schluss gemacht hatte. Was würde er sagen, wenn er erfuhr,  dass er mit ihm zusammenarbeiten musste, dass sie mit Caleb zusammenarbeiten musste? Ach wäre er doch nur hier.

Ein Schatten fiel auf den Tisch und sie schaute auf.

„Es wurde eine weitere Leiche gefunden, kommst du mit mir?“ Caleb stand vor ihr, er war blass. „Du siehst grauenvoll aus!“

„Ich habe auch eine grauenvolle Zeit hinter mir. Was ist, wollen wir Nettigkeiten austauschen oder fährst du mit mir zum Tatort?“ Was blieb ihr anderes übrig?

 

Im Auto schaute Natascha ein paar Mal zu ihm herüber. Es war ihr unangenehm so dicht bei ihm zu sein, unruhig rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her. Als sie in die Straße einbogen, in der das Wohnhaus stand, in dem die Leiche gefunden worden war, wimmelte es vor Polizeiwagen und Schaulustigen. Die Beamten hatten Mühe die Leute zurückzuhalten.

Das Haus war Bestandteil eines riesigen Wohnkomplexes, der Anonymität versprach. Hohe, vielstöckige, eng aneinander gebaute Hochhäuser mit kleinen Rasenflächen an den Seiten und Jugendlichen, die bei Einbruch der Nacht auf den kleinen Spielplätzen herumlungerten, die wie Inseln in die Blöcke hineingeworfen waren.

Kaum war der Wagen zum Stehen gekommen, sprang Natascha schon heraus, froh diese unmittelbare Nähe zu Caleb los zu sein. Sie ging auf die Absperrung zu und wurde prompt von einem Polizisten daran gehindert, einen Schritt weiter zu gehen. Plötzlich stand Caleb hinter ihr und reichte dem Beamten ein Stück Papier. Dieser nahm es und studierte es wenige Augenblicke, dann nickte er und erklärte ihnen, wo sie hin mussten.

Natascha und Caleb stiegen die Treppe in den zweiten Stock hinauf, wo sie von einer Beamtin der Kripo in Empfang genommen wurden. Sie stellte sich als Kriminalkommissarin Ulrike Lotze vor und brachte Natascha und Caleb in die Wohnung.

Durch einen kleinen Flur gelangten sie in einen Raum, der nur karg mit einem alten Sofa und einem Tisch eingerichtet war. Die Wände waren weiß und es gab keine Bilder. Schwere, alte Gardinen waren vor den Fenstern zu gezogen und tauchten alles in ein klägliches ungesundes Licht. Ulrike Lotze führte sie weiter in das angrenzende Schlafzimmer. Natascha spürte, dass Caleb ein wenig zurück blieb. Ihr wurde bewusst, dass er ein Empath war und die Gefühle anderer wie seine Eigenen erlebte, was fühlte er hier?

Ein Bild des Grauens tat sich vor ihren Augen auf. Das Schlafzimmer war nur mit einem Doppelbett und einer Kommode eingerichtet. Die Wände waren, wie auch im Wohnraum schmucklos, jedoch nicht mehr einfach nur weiß, sondern über und über mit Blut bespritzt. Kleine und große rote Flecken bildeten ein bizarres Muster, das durch die grellen Lampen der Spurensicherung angestrahlt wurde. In der Mitte lag ein Körper, vor dem ein Mediziner kniete. Es war ein zierlicher Körper, nicht der eines Mannes, sondern der einer Frau. Ihre langen schwarzen Haare waren voll mit Blut und einer nicht definierbaren Masse aus Gewebe und was auch immer. Das Gesicht war zerschlagen. Die Frau war unbekleidet, der Körper geschunden, übersät mit Einstichen und ihrer Weiblichkeit beraubt.

Natascha wurde übel und sie spürte Calebs stoßweise Atem in ihrem Nacken. Er stöhnte leise auf und hielt sich am Türrahmen fest. Sie drehte sich zu ihm um und starrte in sein bleiches Gesicht, in seine Augen, die weit aufgerissen waren und funkelten. Er trat ein paar Schritte zurück und atmete tief ein.

„Ich warte unten“, flüsterte er und ging, bevor sie auch nur etwas erwidern konnte.

 

Natascha sah ihn auf einem Mauervorsprung sitzen, als sie aus dem Wohnhaus kam. Er zog an einer Zigarette und blickte starr vor sich hin. Sie ging das Stück zu ihm und blieb vor ihm stehen. Obwohl sie sich dagegen wehrte, fühlte sie sich trotz allem von ihm angezogen, die dunklen Haare, die vollen, sinnlichen Lippen, seine feinen Gesichtszüge, die markanten Narben, sein schlanker, muskulöser Körper, die langen Beine, die unglaublichen Augen.

„Was war das denn eben? Ich glaube, du hast schon Schlimmeres gesehen, wahrscheinlich schon selber Schlimmeres getan.“

Er schaute zu ihr hoch und kniff die Augen zum Schutz gegen die Sonne zusammen. „Ich glaube nicht, dass ich so etwas jemals getan habe.“ Er stand auf und trat die Zigarette aus. „Sind wir hier fertig?“, fragte er. Sie nickte und er ging zum Auto, sie folgte ihm. Er startete den Wagen nicht sofort, sondern schaute noch einmal zu dem Haus zurück.

„Was ist los?“ Natascha konnte sich sein Verhalten nicht erklären.

„Nichts!“ Caleb drehte den Schlüssel im Zündschloss um und der Wagen sprang an.

 

Zurück im Büro verschwand er mit dem anderen in einem Besprechungsraum. Natascha setzte sich an Toms Tisch, schloss kurz die Augen, dann nahm sie ihr Handy und wählte seine Nummer. Er nahm fast sofort ab, so als hätte er auf ihren Anruf gewartet.

„Schatz, schön von dir zu hören, wie geht es dir?“ Toms Stimme war so fröhlich, es tat gut.

„Es geht mir gut. Ich vermisse dich.“

„Ich dich auch. Genießt du die paar Tage alleine?“ Im Hintergrund war eine Frauenstimme zu hören. „Liebe Grüße von Julia soll ich dir bestellen. Und was ist? Hast du schon ein wenig von dem gemacht, was du dir vorgenommen hast?“

Natascha wollte Tom den Kurzurlaub bei seiner Schwester nicht verderben. Er hatte in den Wochen zuvor fast rund um die Uhr gearbeitet, nun wusste sie auch woran, er sollte sich entspannen. Sie sprachen nicht viel über seine Arbeit, sie wollte es nicht, nur wenn ihn etwas all zu sehr beschäftigte kamen sie auf diese Themen.

„Ja ein wenig, mir ist aber ein Job dazwischen gekommen.“

„Oh das tut mir leid, verdammtes Museum“, sagte er lachend. „Aber du bist und bleibst ein Workaholic und kannst halt einfach nicht nein sagen.“

„Tom“, sie zögerte, „ich liebe Dich.“ „Ich dich auch!“„Bis übermorgen.“ „Bis übermorgen, grüß Penny von mir.“ Sie legten auf.

Das Wetter war schön und so entschloss sie sich ein wenig vor die Tür zu gehen. Auf dem Weg nach draußen schaute sie durch das Fenster in den Besprechungsraum, dort saß nur noch Caleb und spielte mit einem Becher. Er war in seine Gedanken versunken, schaute jedoch plötzlich auf und sah sie durch die Scheibe an. Sie hatte so viele Fragen an ihn, also betrat sie den Raum und schloss hinter sich die Tür. „Ich wollte mir gerade die Beine vertreten und vielleicht etwas essen gehen, kommst du mit?“

Da es so aussah, als würden sie gezwungenermaßen Zeit miteinander verbringen, wollte sie wissen, was er wusste über diesen Fall und über all die anderen Dinge. Er nickte, stand auf und griff seine Jacke, die er überzog. Ihr fiel auf, dass er unter dem dünnen T-Shirt keine Rückenscheide mit Schwert tragen konnte, die Waffe mit der die Bewahrer und die Grauen Krieger kämpften, sie sah jedoch, dass er eine Schusswaffe in einem Holster am Hosenbund hatte.

 

Sie saßen vor einem Kaffee. Die frühlingshaften Temperaturen hatten die Menschen nach draußen gelockt. Natascha aß ein Sandwich, Caleb wollte nichts. Er schwieg und sie war bedacht darauf, ihre Gefühle zu kontrollieren. Sie wusste nicht, ob es überhaupt etwas ausmachte, ob es Cales Fähigkeiten überhaupt beeinflussen konnte, denn er konnte in die Seelen der Menschen schauen und die konnte sie nicht verschließen.

„Warum sollte ich dich begleiten?“ Sein Tonfall war kalt und abweisend.

„Wir werden ja zwangsweise miteinander auskommen müssen, wie hast du das angestellt?“

„Ich habe damit nichts zu tun, habe ich dir schon gesagt.“

„Das glaube ich dir nicht aber egal. Ich wollte über den Fall reden. Was weißt du? Was wisst ihr?“ „Nichts.“

„Hah! Auch das kann ich kaum glauben. Was habe ich mit dem Fall zu tun? Es geht hier nicht um Kunstraub und überhaupt ist die Angelegenheit sehr sonderbar. Wieso taucht nichts in der Presse über die Morde auf? Diese Tote von heute Morgen, sie passt so gar nicht ins Bild, ist nur mir das aufgefallen, oder auch den anderen? Und was hat dich so schockiert?“

„Sie passt ins Bild“, sagte er leise.

„Was?“ Natascha hatte geglaubt ihn nicht richtig verstanden zu haben.

„Sie passt ins Bild“, sagte er ein wenig lauter.

„Dann sage mir wie.“

Er atmete tief ein. „Ich wäre heute Morgen sowieso mit dem Flugzeug aus Rom gekommen und dann wäre ich in diese Wohnung gefahren. Es gab eine Planänderung, ich bin zu euch gefahren. Ich hätte an ihrer Stelle tot sein sollen.“

Natascha hatte aufgehört zu kauen und starrte Cale an. „Du kanntest diese Frau und die Wohnung?“ Er nickte. „Die Wohnung gehört einem Vertrauten von uns, und da unsere Aufenthaltsorte mittlerweile stark eingeschränkt sind, stellt er sie uns zur Verfügung.“

„Und die Tote.“

„Sie heißt Sarah!“ Er klang ärgerlich. „Ich weiß nicht, ich denke sie hat dort auf mich gewartet. Ich hatte keine Ahnung. Sie war wahrscheinlich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.“

„Wieso glaubst du, dass nicht sie das Ziel des Mörders war?“

„Weil er nur Graue Krieger tötet.“

Natascha blieb der Bissen im Hals stecken. Sie legte das Sandwich auf den Teller und wischte sich mit der Servierte den Mund ab. „Nur Euch? Sie waren alle Krieger? Aber wieso ich, wieso die Kripo?“

Er verschloss sich total und antwortete nicht.

„Pass mal auf, irgendeinen Grund müsst ihr ja haben, wenn ihr freiwillig mit den Menschen zusammenarbeitet und irgendeinen Grund müsst ihr haben, wenn ihr mich dazu braucht. Also erkläre es mir, oder ich bin aus der Sache raus!“

Caleb zögerte, sie spürte seinen Widerwillen sich in die Karten schauen zu lassen. „Du, weil du über uns Bescheid weißt, die Kripo, weil wir nicht mehr weiter wissen. Es gibt mehr als diese sieben Toten, das sind nur die, die ihr vor uns entdeckt habt. Wir haben keine Spur, genauso wenig wie ihr, aber ich denke beide Seiten übersehen etwas. Vielleicht kommen wir gemeinsam drauf.“ „Ihr nehmt die Hilfe von Menschen an?“

„Wir sind nicht mehr so viele, der Kampf gegen die Kirche hat Opfer gefordert, er war lang und hart.“

„Und ihr habt ihn verloren denn ansonsten hätte euch der Vatikan nicht geschickt, oder war das eine Lüge von euch?“

„Nein wir haben ihn nicht verloren, aber beinahe. Sie hatten uns fast zerstört. Doch ohne uns ist die Menschheit nicht sicher und durch einen Vermittler wurde uns ein Angebot gemacht, in das wir einwilligen mussten, wenn wir eine Zukunft haben wollten. Ich will nicht darüber reden, es ist nicht deine Angelegenheit“, antwortete er sauer. Er stand auf und ging, einfach so.

Natascha schmiss zehn Euro auf den Tisch und rannte hinter ihm her. Als sie ihn eingeholt hatte, packte sie ihn am Arm. Er drehte sich um und funkelte sie böse an.

„Lass mich!“, zischte er.

„Nein verdammt, das würde ich gerne, aber das kann ich nicht! Was war mit dieser Frau? Du musst sagen, dass du sie kanntest, du musst sagen, wer sie war, vielleicht vermisst sie jemand.“

„Sie war 146 Jahre alt, wenn ich sage wer sie war und sie ihre Daten überprüfen werden sie herausfinden, dass sie die Identität einer Toten angenommen hat. Derjenige, der sie vermissen könnte, wäre Nathan, mein Freund.“

„Der Priester?“

Caleb nickte. „Und die Nachricht von ihrem tot hat er schon erhalten, von mir.“

Natascha verstand, er hatte etwas für diese Frau empfunden.

„Es ist mir scheißegal was du von mir hältst. Ich weiß, dass du mich hasst, aber auch das ist mir scheißegal. Mir ist aber nicht scheißegal was mit meinen Freunden passiert und egal wie, ich werde dafür sorgen, dass dieser Mörder seine gerechte Strafe bekommt, mit oder ohne deine Hilfe.“ Er machte sich von ihr los und verschwand.

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